Ein Schüler kam einst zu seinem Meister und beklagte sich über die Menschen, die ihn in letzter Zeit beleidigt hatten oder unfreundlich zu ihm waren. „Fast jeden Tag begegnen mir Menschen über die ich mich aufregen muss, weil sie sich so dämlich verhalten oder weil sie mich beleidigen oder mich verletzen“, klagte er.

Der Meister ging kurz ins Nebenzimmer und kam mit einem Messer und einem Korb voller Kartoffeln zurück, die er dem Schüler überreichte. „Ich möchte, dass du an alle Personen denkst, die dich in letzter Zeit verletzt oder beleidigt haben. Dann ritzt du mit dem Messer den Namen jeder einzelnen Person in eine Kartoffel.“

Dem Schüler fielen schnell einige Namen ein, und nach kurzer Zeit hatte er mehrere Kartoffeln beschriftet. „Gut“ , sagte der Meister. „Hier hast du einen kleinen Sack. Gib deine Kartoffeln da hinein und trage den Sack eine Woche lang überall mit dir herum. Dann komm wieder zu mir.“

Der Schüler tat, wie der Lehrer ihm geheißen hatte. Anfangs empfand er das Tragen des Sackes nicht als besonders schwierig. Aber nach einigen Tagen wurde der Sack immer lästiger; außerdem begannen die angeritzten Kartoffeln zu stinken.

Nach sieben Tagen begab sich der Schüler mit seinem Sack wieder zum Meister.

„Hast du aus dieser Übungen etwas gelernt?“, fragte dieser.

„Ich denke schon“, antwortete der Schüler. Wenn ich anderen nicht vergebe, trage ich diese Gefühle des Ärgers immer mit mir, genau wie die Kartoffeln. Und irgendwann verfault das Ganze auch noch. Also muss ich die Kartoffeln entfernen, indem ich meinen Mitmenschen vergebe, so wie es alle großen Weltreligionen predigen.“

„Gut“, sagte der Meister, „du kannst vergeben und so die Kartoffeln loswerden. Überlege bitte, welcher dieser Personen du vergeben kannst, und entferne die entsprechenden Kartoffeln aus deinem Sack.“

Der Schüler dachte nach. Die Vorkommnisse, deretwegen er die Kartoffeln in den Sack gegeben hatte, waren alle schon mindestens eine Woche her; und so vergab er allen Personen und entferne alle Kartoffeln aus dem Sack.

„Ausgezeichnet“, sprach der Meister und lächelte. „Dein Sack ist wieder leer. Deshalb möchte ich jetzt, dass du für alle Personen, die dich in der letzten Woche verletzt haben, erneut Kartoffeln beschriftest und in den Sack gibst.“

Der Schüler erschrak, denn er erkannte, dass sich sein Sack so schon wieder mit Kartoffeln füllen würde. „Meister!“, rief er, „Wenn ich so weitermache, werde ich ja immer Kartoffeln im Sack haben!“

„Ganz genau“, antwortete der Meister verschmitzt, solange irgendjemand etwas gegen dich sagt oder gegen dich handelt, wirst du Kartoffeln im Sack haben.“

„Aber ich kann doch nicht beeinflussen, was andere sagen oder tun. Was bringt denn die Aufforderung aller Religionen, zu vergeben, wenn wir immer aufs Neue vergeben müssen?“

„Nicht besonders viel, das muss ich zugeben“, antwortete der Meister. „Es ist eben die konventionelle Methode, die von den Religionen und Philosophen gepredigt wird. Das Problem ist, dass sie nur an die Kartoffeln denken und nicht an den Sack. Aber wenn die Kartoffeln deine negativen Gefühle sind, was ist dann der Sack?“

Der Schüler überlegt. Schließlich sagte er.“Ich denk, das der Sack mein Ego, mein Selbst ist. Ohne den Sack gibt es keine Kartoffeln …. und ohne meine Ego keine negativen Gefühle.“

„Was passiert also, wenn du den Sack loslässt?“, fragte der Meister.

„Dann …. dann ist das, was die Leute gegen mich sagen oder tun, kein Problem mehr für mich.“

„Richtig – und in diesem Fall wirst du niemanden mehr finden, dessen Namen du in eine Kartoffel ritzen könntest. Der traditionelle Weg der der Religion und Philosophie betont das Streben nach etwas. Das Tao hingegen bedeutet, nicht zu streben, auch nicht nach Illusion eines Egos oder eines Selbst. Dann gibt es nämlich nichts mehr, wofür der wogegen du streben müsstest. Sondern du bist Eins mit dem Lauf der Welt.

Quelle: Taoism.net/german/living